FührungskompetenzAls Führungskraft mit Druck umgehen – Expertentipps
Wer löst den Druck auf Führungskräfte aus?
„Alle zerren an mir.“ Das sagte kürzlich der Bereichsleiter eines mittelständischen Unternehmens – nennen wir ihn Hans Huber – während einer Coachingsitzung zu mir. „Wer sind alle?“, fragte ich ihn und protokollierte seine Aussage in einer Zeichnung. Anschließend übergab ich sie ihm mit den Worten „Das sind Ihre Auftraggeber“:
„So viele. Das war mir nicht bewusst“, sagte Huber daraufhin nachdenklich. „Aber es ist schon so. Es werden immer mehr. Deshalb fällt es mir immer schwerer, meine persönliche Linie zu bewahren.“
Vielfältige Aufgaben als Auslöser für Druck
Dann schilderte Herr Huber, welche Aufgaben fast täglich auf seinem Schreibtisch landen:
- Mitarbeitende erwarten eine Entscheidung.
- Externe Partner und Dienstleister wollen wissen, wie es weitergeht.
- Der Vorstand und die Anteilseigner der Firma wünschen einen Investitionsplan.
- Führungskräfte bitten ihn, einen Konflikt zu klären.
- Die Bank lädt zu einem Gespräch über den Geschäftsverlauf ein.
- Schlüsselkunden fordern „bessere“ Konditionen.
- Die benachbarte Schule wünscht Praktikumsplätze für ihre Schüler.
- Die IHK möchte ihn als Teilnehmer an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Führung im Kontext von KI“ gewinnen.
Der eigene Anspruch bleibt auf der Strecke
Und irgendwo zwischen all diesen Aufgaben und Anforderungen, die es zu erfüllen gilt, liegt ein Blatt mit persönlichen Notizen von Herrn Huber. Diese machte sich der Bereichsleiter im letzten Urlaub, als er an einem Abend reflektierte, mit welchen Ansprüchen er ins Berufsleben gestartet ist.
Herr Huber wollte Erfolg haben. Dabei wollte er jedoch „sich treu“ und „menschlich“ bleiben. Und was wurde daraus? Er ist erfolgreich – zweifellos! Doch zu welchem Preis? Im Arbeitsalltag zeigt er kaum Emotionen. Hart geführte Gespräche gelten als seine Stärke. Für persönliche Worte bleibt kaum Zeit. Und nicht selten muss Herr Huber auch Mitarbeitende kündigen und mit ihnen über ihre Abfindung feilschen – professionell und routiniert, doch zuweilen bis an die Grenze der Fairness.
Herr Huber begreift dies als Teil seines Jobs. Trotzdem fühlt er sich oft nicht wohl dabei, denn das Scheitern von Mitarbeitenden ist meist nicht nur ihr Fehler. Er hätte sich mehr um sie kümmern müssen; er hätte ihnen häufiger ein Feedback geben und zum Teil früher intervenieren sollen. Doch woher die Zeit nehmen?
Die persönliche Vision
Im Urlaub schrieb Herr Huber auch auf, welche Ziele und Werte für ihn beim Berufsstart wichtig waren und heute noch sind:
- souverän sein (Situation beherrschen)
- zuverlässig, fair, vertrauenswürdig sein
- handfeste Pläne zur Erreichung der Ziele haben
- Ziele klar kommunizieren und konsequent verfolgen
- Mitarbeitende in Entscheidungen integrieren
- Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden entwickeln
Das half ihm, sich nach der Auszeit mit neuer Zuversicht in die Arbeit zu stürzen. Und in den ersten vier Tagen hatte er auch das befriedigende Gefühl, endlich wieder einen roten Faden für sein Handeln zu haben.
Doch am fünften Tag, kurz vor dem Wochenende, musste er der jungen, ehrgeizigen Mitarbeiterin Carla Martins das Ende ihres Projekts mitteilen. Nicht aus Willkür, sondern weil die Umsätze und Erträge überraschend sanken und deshalb die Finanzlage des Betriebs keinen Spielraum für größere Investitionen mehr ließ.
Dabei hatte er erst vor drei Monaten Frau Martins in mühsamer Kleinarbeit die Bedeutung des Projekts erläutert, woraufhin diese sich begeistert auf die Aufgabe stürzte – auch weil sie in ihr eine Entwicklungsperspektive für sich sah. Und nun das Aus.
Recht hilflos stand Herr Huber Frau Martins gegenüber, die die Entscheidung nicht verstand oder nicht verstehen wollte – auch weil ihr Vorgesetzter keine neue Entwicklungsperspektive aufzeigen konnte. „Sie haben doch gesagt, wie wichtig das Projekt sei. Sie haben mir doch signalisiert, wenn …“. Aussagen, die Huber nur bejahen konnte.
Auf diesen Tag folgten weitere „fünfte Tage“ und bei Herrn Huber verdichtete sich erneut das Gefühl:
- „Alle zerren an mir!“
- „Ich habe den roten Faden verloren.“
- „Ich reagiere nur noch auf äußere Zwänge.“
Dabei hatte er erst vor wenigen Wochen im Urlaub seine Vision zu Papier gebracht.
Auftraggeber und Forderungen analysieren
Entsprechend desillusioniert blickte Herr Huber nun auf die Skizze seiner Auftraggeber. Und dann sagte er: „Okay, die erwarten alle etwas von mir. Soweit die Analyse, was nun?“ Ich bat ihn, auf einem Formblatt neben seinen Auftraggebern zu notieren, was diese von ihm fordern oder wünschen (siehe Tabelle).
Auftraggeber | Forderung | Was bin ich bereit, zu tun? |
Vorstand | ||
Kollegen | ||
Mitarbeitende | ||
… | ||
eigener Anspruch |
Anschließend fragte ich ihn, wie er normalerweise mit solchen Forderungen umgeht. Seine Antwort: „Ich analysiere, wer der Auftragsgeber ist? Wie wichtig ist die Beziehung zu ihm für mich? Was tut er für mich? Was sollte ich für ihn tun? Und dann …“
Ich nickte: „Okay, dann haben Sie ja einen Maßstab, um die Frage in der dritten Spalte zu beantworten: ‚Was bin ich bereit zu tun?‘“
Das „Müssen“ hinterfragen
Das leuchtete Herrn Huber ein. Doch schnell kam er an den Punkt: „Aber wenn die Geldgeber …, dann muss ich doch …“ An diesem Punkt blieb er hängen, denn er musste auch „Wenn die Kollegen …“, „Wenn die Kunden …“. Nur bei seiner Familie musste er nicht – die konnte warten.
Die folgenden Fragen helfen dabei, einen neuen Blickwinkel zu erhalten:
- Liegt mein Gefühl, im Arbeitsalltag „Ich muss …“ auch daran, dass ich glaube, dass die Geldgeber oder Kundinnen und Kunden schrecklichere Sanktionsmöglichkeiten haben als meine Familie?
- Wie sehen die Sanktionen meiner Familie und Freunde aus, auch wenn ich diese nicht sofort spüre?
- Geht es auch um die Frage, welche Konsequenzen ich bereit bin, für meine Entscheidungen zu tragen?
- Kann mich wirklich jemand zu etwas zwingen oder nötigen, wenn ich dies nicht möchte?
- Habe ich Handlungs- und Entscheidungsalternativen?
Es dauerte einige Zeit, Herrn Huber durch Fragen zur neuen Sicht zu führen: „Ich muss nicht (zumal ich finanziell schon weitgehend abgesichert bin). Es ist stets meine Entscheidung, ob ich …“.
Daraufhin begann Herr Huber, die Forderungen in einem neuen Licht zu sehen. Er ordnete und priorisierte sie neu und formulierte für sich Regeln, wie er künftig mit unvereinbaren Forderungen umgehen wolle.
Wenn der eigene Anspruch Druck verursacht
Wie aber sollte Herr Huber mit dem Auftraggeber „eigener Anspruch“ umgehen?
„Der kann anders als die Geldgeber oder Kunden mein Verhalten nicht sanktionieren.“ „Wirklich?“, fragte ich nach. „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie gegenüber einem Mitarbeiter oder externen Partner Ihre ganze Routine und Macht ausspielen und an die Grenze der Fairness gehen?“
Herr Huber wurde nachdenklich: „Sehr bescheiden, zumindest als Mensch.“ Der eigene Anspruch an sich als Mensch wirkt also auf Herrn Huber wie ein Auftraggeber, nur auf einer anderen Ebene. Doch leider kennen wir ihn meist nicht genau.
Also bat ich Herrn Huber, sich seinen eigenen Anspruch als „inneren Auftraggeber“ bildhaft vorzustellen. Er nannte ihn „Werte-Anwalt“ und analysierte, welche Forderungen dieser an ihn stellt, bevor er schließlich für sich nüchtern klärte, inwieweit er dessen Forderungen künftig entsprechen wolle.
Nachdem Herr Huber dies geklärt hatte, wurde er ruhiger. Sein innerer Druck ließ nach, denn er hatte wieder einen roten Faden. Daraufhin formulierte er für sich fünf Schritte, wie er künftig, wenn der Druck steigt, zunächst analysieren wolle, welchen Forderungen er entsprechen möchte und welchen nicht, statt nur zu reagieren. Danach fühlte er sich für den (Führungs-)Alltag wieder gewappnet.
Druck reduzieren durch bewusste Entscheidungen
Das tut Herr Huber, wenn der Druck auf ihn steigt:
- Ich analysiere, wer meine äußeren und inneren Auftraggeber sind.
- Ich ermittele, was meine Auftraggeber fordern.
- Ich mache mir erneut bewusst: Niemand kann mich zu etwas zwingen, wenn ich dies nicht möchte.
- Ich analysiere, welchen Forderungen ich entsprechen möchte.
- Ich überlege, wie ich mit Forderungen umgehe, zu denen ich „Nein“ sage.
Wie sich der Druck nachhaltig verringern lässt
Trotzdem entschied Herr Huber, sich in den kommenden Monaten weiterhin in regelmäßigen Abständen coachen zu lassen, um im Berufsalltag einen „externen Sparringpartner mit neutralem Blick“ zu haben.
Denn aus Erfahrung wusste er: Ansonsten ist die Gefahr groß, dass er in Stresssituationen wieder in seine alten, über Jahre antrainierten Verhaltensmuster zurückfällt und die von ihm angestrebten Einstellungs- und Verhaltensänderungen nicht nachhaltig sind. Das gab ihm das gewünschte Gefühl, mit dem Druck zukünftig besser umgehen zu können.