InformationstechnikProzessgesteuerte Digitalisierung im Unternehmen umsetzen
Wie weit ist die Digitalisierung im Alltag der Unternehmen?
Wer im Unternehmen die Verantwortung für die Digitalisierung übernimmt, will damit die Produktivität steigern. Mit der Digitalisierung wollen wir Kundenerleben verbessern und Leistungen skalieren.
Im Alltag sehen wir aber, dass das Versprechen nicht eingelöst wird. Die Mitarbeitenden verbringen viel zu viel Zeit damit, Informationen zwischen verschiedenen Anwendungen im Unternehmen zusammenzutragen. Wie oft müssen dabei selbstgestrickte Excel-Tabellen als Krücke herhalten?
Als Verantwortlicher fühlt man sich von den IT-Anbietern im Stich gelassen. Wir müssen Informationen zwischen den Anwendungen makeln und sitzen zwischen den Stühlen, wenn etwas nicht funktioniert. Das sollte doch nicht unser Job sein.
Dabei sollte Digitalisierung doch allen die Arbeit leichter machen.
Anforderungen an die IT-Anwendungen
Deshalb braucht es einen Plan: Die Anwender in den Geschäftsprozessen sollen nicht mehr mit verschiedenen, unkoordinierten IT-Systemen arbeiten. Die bewährten Geschäftsanwendungen bleiben zwar, aber sie arbeiten fernab von den Benutzern im „Maschinenraum der IT“. Für die „Arbeit an Deck“ gilt:
- Benutzer tun nur noch fachlich sinnvolle Arbeit.
- Informationen sind immer da, wo sie gerade gebraucht werden.
- Benutzerdialoge sind aus fachlicher Sicht einleuchtend und einfach.
- Kundennutzen, Kundenerleben und Ergonomie für die Mitarbeitenden bestimmen den Prozess.
- Austausch von Informationen zwischen Prozess und Geschäftsanwendungen ist nicht die Aufgabe der Prozessbeteiligten. Das erledigt eine IT-Anwendung.
Drei Schichten zwischen Prozess und Daten
Und so funktioniert dieser Plan: In der prozessgesteuerten Digitalisierung steuern wir den Informationsfluss im Unternehmen über drei Schichten:
1. Prozessanwendung mit Benutzerdialog
Eine Prozessanwendung (sogenannte Process-Engine) koordiniert die Aufgaben von Benutzern und IT nach einem rein aus fachlicher Sicht gestalteten Prozess. Diese Anwendung stellt auch alle Benutzerdialoge im Prozess. Anwender sehen im Alltag keine anderen Anwendungen mehr.
2. Datenintegration
Eine Anwendung zur Datenintegration stellt die Informationen bereit, die in den Prozessen benötigt werden und führt die Aufträge des Prozesses für Transaktionen und Buchungen in den Geschäftsanwendungen aus. Wir sprechen dabei von „Serviceverträgen“ zwischen dem fachlichen Prozess und der IT-Integration.
3. Geschäftsanwendungen
Hinter dieser Integrationsschicht liegen die eigentlichen Geschäftsanwendungen des Unternehmens. Sie haben die Aufgabe, die Daten zu führen und die Transaktionen des Geschäfts korrekt auszuführen.
Welche IT-Anwendungen braucht es dazu?
In allen drei Schichten der prozessgesteuerten Digitalisierung arbeitet ausschließlich Standard-Software. Die Process-Engine und die Integrationssoftware sind Standardanwendungen der IT-Infrastruktur.
Als Business-Anwendungen im Hintergrund kommen prinzipiell alle Anwendungen infrage, die im Unternehmen schon im Einsatz sind. Sie sollen die Aufgaben, für die sie geschaffen sind, ganz nah am Standard ausführen – ohne jede „Verschlimmbesserung“ durch Individualanpassungen.
Die meisten gängigen Business-Anwendung laufen sicher und rund, solange sie in ihrer Standardkonfiguration betrieben werden.
Folgende Abbildung zeigt die drei Schichten und die beteiligten IT-Anwendungen in der Übersicht.
Standardanwendungen oder Individualentwicklung?
„Stick to the Standard“ ist seit jeher das Mantra der Anwendungsberater – das sie aber im Projekt schnell über Bord werfen. In Wirklichkeit sind die Prozesse des Unternehmens viel zu flexibel, um mit „one size fits all“ bearbeitet zu werden.
In der prozessgesteuerten Digitalisierung belassen wir die Anwendungen bei ihrem Standard. Wir schaffen die individuellen Prozesse des Unternehmen nur über die Prozessanwendung.
Die Process-Engine führt Prozesse genau so aus, wie sie in einer standardisierten Modellsprache beschrieben sind. Die Sprache zur Beschreibung der Prozesse heißt „Business Process Model & Notation“, kurz BPMN.
Die Form, wie Prozesse dargestellt werden, ist darin standardisiert. Die damit beschriebenen Prozesse sind jedoch so individuell, wie es das Geschäft des Unternehmens verlangt. Prozessdesign soll sich ausschließlich an Kundennutzen, Kundenerleben und Ergonomie ausrichten.
Die Aufgabentypen für den Prozess
Die Process-Engine orchestriert die Aufgaben von Benutzern und Informationstechnik über drei zentrale Elemente:
1. Benutzeraufgaben
Benutzeraufgaben dienen dazu, den zuständigen Personen eine Aufgabe zur Bearbeitung zu geben. Dazu stellt die Engine auch einen Benutzerdialog bereit, wo die Anwender alle Informationen und Eingabemöglichkeiten finden, die sie dafür brauchen.
Das Design dieser Masken richtet sich danach, wie es für diese konkrete Aufgabe am besten passt. Die einfache Benutzerführung sorgt für schnelle Einarbeitung.
2. Serviceaufgaben
Serviceaufgaben sorgen für den Informationsaustausch zwischen Prozess und Informationstechnik. Über die Serviceaufgaben fordert der Prozess bei der Informationstechnik die benötigten Informationen an und beauftragt die Transaktionen, die der Prozess generiert – zum Beispiel Lagerbuchungen oder Fakturierungen.
3. Regelaufgaben
Regelaufgaben treffen automatisiert Entscheidungen nach festgelegten Regeln. In den meisten Prozessen ist eine Entscheidung der Kern der eigentlichen Tätigkeit. Aber in Wirklichkeit brauchen nur die wenigsten Entscheidungen eine „analoge“ Person, die entscheidet. Wenn die Regeln klar sind, kann auch eine Maschine entscheiden.
Wo die Regeln klar sind und alle Informationen vorliegen, kann auch eine Maschine die Entscheidung treffen.
Nur wenn die Regeln auf Widersprüche oder Regelungslücken treffen oder analoge Ermessensspielräume gelten, dann muss die Engine die Entscheidung in eine Benutzeraufgabe steuern.
Mit diesen drei Aufgabentypen konzentrieren sich Prozesse auf die wesentlichen Aufgaben. Wir automatisieren die Informationsbeschaffung, entscheiden transparent und bleiben dennoch flexibel, wo ein Mensch mit Herz und Hirn der bessere Akteur ist.
Die Vorteile der prozessgesteuerten Digitalisierung
Freiheit in der Prozessgestaltung
Der wichtigste Vorteil dieses Umsetzungskonzeptes ist die Freiheit, die eigenen Prozesse so zu gestalten, wie es den Kundenerwartungen und der Ergonomie für die Mitarbeitenden am besten gerecht wird.
Prozesse richten sich nicht nach den Anforderungen von IT-Anwendungen. Unternehmen gewinnen damit die Souveränität über ihre Prozesse zurück.
Unabhängigkeit von Herstellern
Ein zweiter Vorteil ist die Unabhängigkeit von bestimmten Herstellern. Alle Bausteine in der Anwendungslandschaft einer prozessgesteuerten Digitalisierung sind Standardsysteme, die nur sehr wenig oder gar nicht individualisiert werden.
So bleibt jede Komponente für das Unternehmen austauschbar. Fällt ein Hersteller aus oder bleibt der Service hinter den Erwartungen zurück, kann die Komponente jederzeit mit begrenztem Aufwand gegen eine andere ausgetauscht werden, die die gleichen Funktionen erfüllt.
Breit verfügbares Know-how
Diese Unabhängigkeit zeigt sich auch in den Anforderungen an das technische Know-how im IT-Team des Unternehmens: Die IT benötigt für dieses Konzept wenig proprietäres Wissen, das sich die Experten für einzelne Hersteller aneignen müssen.
Stattdessen basiert das Vorgehen auf breit gestreutem generischen Wissen, das auf dem Personalmarkt leichter zu gewinnen ist.
Das Konzept der prozessgesteuerten Digitalisierung erlaubt es, die Prozesse so weit zu automatisieren, wie es für das jeweilige Unternehmen angemessen ist. Wenn die Process-Engine über ein entsprechendes Monitoring verfügt, lassen sich die Investitionen in weitere Automatisierungen immer anhand der Performance-Rückmeldung aus den Prozessen steuern.
Voraussetzungen für eine prozessgesteuerte Digitalisierung
Will ein Unternehmen den Weg der prozessgesteuerten Digitalisierung gehen, sind einige Voraussetzungen in organisatorischer und technischer Hinsicht zu berücksichtigen.
Prozesskompetenz
Die wichtigste Voraussetzung ist eine ausreichende Prozesskompetenz im Unternehmen. Es ist notwendig, dass Prozessverantwortliche und IT-Verantwortliche ein gemeinsames Bild von den Prozessen des Unternehmens gewinnen.
Dazu müssen sie sich lösen können von den gewachsenen Strukturen und Abläufen und Prozesse digital denken. Die Konzentration auf Kundennutzen, Kundenerleben und Ergonomie ist für Menschen ungewohnt, wenn sie gelernt haben, in den Mustern der überkommenen IT-Systeme zu denken.
Modellierung mit BPMN
Zur Prozesskompetenz gehört auch die Fähigkeit, digital gestaltete Prozesse in korrekten Modellen mit dem Standard BPMN zu formulieren.
Unternehmen, die mit einem prozessgesteuerten Ansatz zur Digitalisierung arbeiten, brauchen eine breite Basis an BPMN-Know-how: Alle verantwortlichen Personen sollten in der Lage sein, diese Modelle zu lesen und kompetent darüber zu diskutieren.
Ein kleinerer Stab von Experten muss diesen Standard profund beherrschen, um die Logik der BPMN für digitale Prozesse nutzen zu können. Diese Experten sollten nicht (nur) die Informationstechniker des Hauses sein, sondern die Prozessexperten.
Selbstverständnis und Kompetenz der IT
Auf Seiten der Informationstechnik ist es notwendig, sich von der Vorherrschaft der Business-Anwendungen zu lösen. Die Anwendungen sollen ihre Funktionen über Programmierschnittstellen an die Integrationsschicht der Architektur übergeben.
Aus der Gestaltung der Abläufe und Strukturen sind sie raus. Diese Verschiebung ist nicht für alle ITler leicht zu schlucken.
Stattdessen konzentriert sich die Aufgabe der IT darauf, eine Process-Engine und eine Integrationsanwendung zu betreiben. Das Know-how über den Weg von der Prozessmodellierung zum ausgeführten Prozess ist die zentrale Herausforderung an das IT-Team. Gleiches gilt für die Kompetenz zur Integration der Daten aus den verschiedenen Anwendungen und Datenbanken.
Die Process-Engine und die Datenintegration sind Standardanwendungen der IT-Infrastruktur. Es gibt dafür verschiedene Anbieter am Markt, deren Leistung prinzipiell untereinander austauschbar ist. Auch Open-Source-Versionen für diese Infrastrukturfunktionen sind verfügbar.
Fazit
Eine prozessgesteuerte Digitalisierung erfordert ein grundlegendes Neu-Denken von Prozessen und IT-Services.
Die Struktur kann einen Ausweg aus dem Dilemma bieten, dass Standardsysteme auf der einen Seite keine individuellen Prozesse unterstützen und auf der anderen Seite Individualprogrammierung kostspielig, langwierig und unsicher erscheint.
Mit der prozessgesteuerten Digitalisierung ergänzen wir den Gegensatz zwischen „Make or Buy“ um eine dritte Option „Orchestrate“.
Netzwerk für unabhängige Prozesse
Prozessberater haben die Erfahrung gemacht, dass die Digitalisierung nur gelingen kann, wenn sie von den Prozessen her gestaltet wird.
Dazu haben sich Prozessberater und IT-Unternehmen unter dem Namen PiDiArtify® zu einem Netzwerk um den Informatikprofessor Volker Stiehl von der TH Ingolstadt und seinen prozessgesteuerten Ansatz zur Digitalisierung zusammengeschlossen. Gemeinsam plädieren sie dafür, die IT-Anwendungen im Unternehmen unter die Regie der Geschäftsprozesse zu stellen.