FührungSCARF-Modell – wie Neuroleadership praktisch funktioniert
Definition: Was ist das SCARF-Modell?
Das SCARF-Modell wurde 2008 von David Rock entwickelt, dem Direktor des NeuroLeadership Instituts. Das SCARF-Modell versucht zu erklären, warum wir in bestimmten Situationen objektiv betrachtet unlogisch oder übertrieben reagieren.
„SCARF“ ist ein Akronym und setzt sich zusammen aus:
- Status (Ansehen)
- Certainty (Sicherheit, Gewissheit)
- Autonomy (Autonomie)
- Relatedness (Zusammengehörigkeit)
- Fairness (Gerechtigkeit)
Mit diesem Modell geht man davon aus, dass unser Gehirn neue Informationen und Ereignisse sofort anhand der fünf SCARF-Faktoren überprüft und einordnet. Alles, was im Hinblick auf SCARF als negativ oder Bedrohung empfunden wird, soll minimiert werden. Alles Positive und Belohnungen sollen maximiert werden. Dann fühlen sich Menschen motiviert und sicher.
Im Kontext von Beruf und Karriere kann SCARF helfen,
- vorausschauend mit dem Team zu interagieren,
- Konflikte zu vermeiden und zu lösen sowie
- konstruktiv zu kommunizieren.
Dadurch wird das Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen ebenso wie die Bindung an das Unternehmen gestärkt und letztlich die Leistungsbereitschaft erhöht.
Die Grundannahmen des SCARF-Modells
SCARF basiert auf zwei Grundannahmen:
- Modell von Matthiew Liebermann und Naomi Eisenberger: Soziale Bedürfnisse werden im Gehirn ähnlich verarbeitet wie Überlebensbedürfnisse; neuronal werden soziale Bedürfnisse behandelt wie Durst oder Hunger.
- „Minimize Danger and maximize Reward“ nach Evian Gordon: Das Gehirn arbeitet nach einem Organisationsprinzip, das darauf ausgelegt ist, Gefahrenrisiken zu minimieren und die Chance auf Belohnungen zu maximieren. Hierdurch entsteht Motivation.
Damit wir „funktionieren“, sind wir darauf angewiesen, dass unser Gehirn eintreffende Informationen blitzschnell verarbeitet und einordnet. Das wichtigste Ziel: Überleben sichern. Menschen entscheiden deshalb oft unbewusst und fast sofort: Handelt es sich um eine Belohnung oder um eine Bedrohung?
SCARF im Kontext Führung
Mit dem SCARF-Modell kann begründet und erklärt werden, warum und wie Mitarbeitende auf bestimmte Aussagen, Entscheidungen oder Handlungen von Führungskräften reagieren. Damit lassen sich auch mögliche Reaktionen auf Führungsentscheidungen besser einschätzen.
Um unerwünschte negative Emotionen gar nicht erst auszulösen und um Konflikten vorzubeugen, werden auf Basis der dem SCARF-Modell zugrunde liegenden Annahmen „optimale“ Verhaltensmuster entwickelt. Vorgesetzte orientieren sich an Verhaltens- und Kommunikationsregeln, mit denen automatisch ablaufende neuronale Prozesse berücksichtigt wurden.
Dadurch erhoffen sich Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter langfristig zu motivieren und Missverständnisse oder Irritationen zu vermeiden.
Beispiele aus dem Berufsalltag
Einige oder alle der folgenden Situationen kommen Ihnen vielleicht bekannt vor:
- Sie bieten einem Mitarbeiter Hilfe an, dieser reagiert ablehnend oder sogar gereizt.
- Beim Team-Meeting greifen Sie die Idee eines Teammitglieds auf. Die Mitarbeitenden lassen sich nicht auf Ihre Vorschläge ein, sondern sind zurückhaltend bis abweisend.
- Ihr eigener Vorgesetzter schreibt Ihnen wegen eines eigentlich unbedeutenden Fehlers eine aus Ihrer Sicht übertrieben unfreundlich formulierte E-Mail. Sie finden: Er macht sprichwörtlich aus einer Mücke einen Elefanten.
Bei der Betrachtung aller drei beispielhaften Situationen liegt eine Annahme zugrunde: Die im ersten Moment unlogisch erscheinenden Reaktionen lassen sich begründen und verstehen – und zwar mithilfe des SCARF-Modells. In allen drei Fällen fühlen sich die Betroffenen im Hinblick auf mindestens einen SCARF-Faktor bedroht.
Wie Menschen (in Unternehmen) auf Bedrohungen reagieren
In akut bedrohlichen Situationen gibt es natürlicherweise drei Optionen:
- Flucht
- Angriff
- Totstellen
Da wir wissen, dass bedrohliche Situationen im beruflichen Kontext nicht lebensgefährlich sind, reagieren die meisten Menschen jeweils mit
- sozialem oder kommunikativem Rückzug anstelle der Flucht
- Gereiztheit, (persönlichen) verbalen Attacken oder passiver Aggressivität anstelle des Angriffs
- Ablehnung oder Verweigerung anstelle des Totstellens
Das Ziel ist es entsprechend, Mitarbeitenden niemals das Gefühl zu geben, sie seien bedroht – etwa durch Kritik aus der Gruppe, den sozialen Ausschluss, eine schlechte Leistungsbewertung, eine Versetzung …
Beispiele zum SCARF-Modell: Wie Führungskräfte neurowissenschaftliche Erkenntnisse anwenden
Beispiel: Status und Relatedness
Für eine Kundenanfrage mit einigen technischen Besonderheiten wollen Sie mit einigen Kolleginnen und Kollegen besprechen, wie Sie die Anforderungen technisch am besten lösen. Eine Mitarbeiterin, die sich ebenfalls gut auskennt, wird nicht angesprochen, weil sie gerade sehr viel zu tun hat.
Als sie erfährt, dass das Meeting ohne sie stattfinden soll, fühlt sie sich übergangen. Die betroffenen Dimensionen:
- Status
- Relatedness
Aufgrund des vermeintlichen Statusverlusts und wegen der empfundenen Nicht-Zugehörigkeit reagiert die Betroffene im Rahmen der nächsten Teambesprechung ablehnend und gereizt. Niemand versteht, warum sie sich so verhält. Objektiv betrachtet gibt es keinen Grund.
Mögliche Lösung
Hätten Sie entsprechend den Annahmen laut SCARF gehandelt, wäre die Situation vielleicht gar nicht eingetreten. Sie hätten es der Mitarbeiterin etwa freigestellt, ob sie teilnehmen möchte oder nicht – mit dem Hinweis, dass es ihr niemand übelnimmt, wenn sie aufgrund ihrer knappen zeitlichen Ressourcen nicht teilnehmen kann.
Vielleicht hätten sie noch darauf hingewiesen, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sie natürlich nicht ersetzen können, aufgrund ihrer fachlichen Expertise und ihrer Erfahrung.
Beispiel: Autonomie
Ein Mitarbeiter soll ab sofort eine neue Software nutzen. Sie arbeiten bereits mit diesem Programm und kennen spezielle Tücken und sinnvolle Kniffe inzwischen. Gerne geben Sie dem unerfahrenen Mitarbeiter Ratschläge zur Benutzung der Software, damit er schneller und einfacher mit ihr zurechtkommt.
Der Mitarbeiter reagiert genervt und bittet sie, zukünftig keine Tipps mehr zu geben. Warum? Weil er sich bevormundet und dadurch in seiner Autonomie bedroht fühlt.
Mögliche Lösung
Sie bieten an, dass sich der Mitarbeiter jederzeit an Sie wenden kann, falls Fragen auftauchen. Sagen Sie explizit: Sie sind zuversichtlich, dass er sich aufgrund seiner guten Auffassungsgabe schnell einfindet.
Beispiel: Certainty
Ihr Team wird ab sofort zweigeteilt; eine Hälfte arbeitet stärker mit der Abteilung Entwicklung zusammen, die andere Hälfte mit der Abteilung Marketing. Für Ihre Mitarbeitenden: Sie müssen sich an andere Kolleginnen und Kollegen gewöhnen, neue Routinen aneignen, andere Regeln befolgen. Die Folge: Einige Mitarbeitende reagieren sofort ablehnend gegenüber dem geplanten Team-Splitting.
Die Dimension Certainty spielt hierbei eine Rolle: Die Situation ist nicht vorhersehbar, das Risiko für Fehler steigt.
Mögliche Lösung
Als eine mit dem SCARF-Modell vertraute Führungskraft ordnen Sie die Reaktion korrekt ein: Es handelt sich nicht um eine persönliche Ablehnung der neuen Kolleginnen und Kollegen. Auch ein pauschales Infragestellen Ihrer Entscheidung ist nicht das Problem. Die Mitarbeitenden empfinden anstehende Veränderungen schlicht als Bedrohung.
Bieten Sie an, dass die Mitarbeitenden vor der Auflösung des Teams im agilen Arbeiten geschult und eingearbeitet werden, bevor der Wechsel endgültig vollzogen wird. Schaffen Sie eine Gelegenheit, dass sich die Personen, die zukünftig enger zusammenarbeiten, besser kennenlernen. Lassen Sie allen Zeit für die Umgewöhnung.
Mögliche Auslöser für Bedrohungs- oder Belohnungsgefühle
Welche Situationen und Maßnahmen je Dimension als Bedrohung oder als Belohnung empfunden werden können:
Dimension Status
Bedrohung ausgelöst durch:
- keine Akzeptanz gegenüber abweichender Meinung
- kein Einbeziehen bei (wichtigen) Entscheidungen
- anstehende (möglicherweise schlechte) Leistungsbeurteilung
Belohnung ausgelöst durch:
- öffentliches Lob bei der Teambesprechung
- gute Beurteilung und daraus resultierende Gehaltserhöhung
Dimension Certainty
Bedrohung ausgelöst durch:
- Veränderungen bei der Teamzusammenstellung
- neue Aufgaben oder Projekte
Belohnung ausgelöst durch:
- deutlich formulierte, erreichbare Zielformulierungen
- Transparenz bei der mittel- bis langfristigen Aufgaben- oder Projektplanung
Dimension Autonomy
Bedrohung ausgelöst durch:
- Erwartung der Führungskraft, dass alle Teammitglieder sich nicht nur fachlich, sondern auch persönlich gut verstehen und über Privates austauschen
- keine Möglichkeit, bei Überforderung oder Stress das Pensum der eigenen Leistungsfähigkeit anzupassen
Belohnung ausgelöst durch:
- Führung bietet an, zwischen mindestens zwei Optionen entscheiden zu dürfen
- freie Entscheidung zwischen rein beruflicher Beziehung oder (teilweise) privatem Bezug zu Kolleginnen und Kollegen
- Toleranz gegenüber individueller Kommunikations- und Arbeitsweise (bis zu einem gewissen Grad)
Dimension Relatedness
Bedrohung ausgelöst durch:
- von Meetings oder Events ausgeschlossen werden
- wechselnde Kolleginnen und Kollegen, ohne die Möglichkeit des Kennenlernens
Belohnung ausgelöst durch:
- aufrichtiges, geduldiges Zuhören seitens der Führungskraft und der Kollegen
- bei Bedarf Einzelner immer zusätzliche Teamgespräche möglich
- neue Mitarbeitende werden allen vorgestellt; eine Kennenlernrunde ist standardmäßig vorgesehen
Dimension Fairness
Bedrohung ausgelöst durch:
- Diskriminierung aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Betriebszugehörigkeit …
- Bevorzugung von einzelnen Kolleginnen oder Kollegen
Belohnung ausgelöst durch:
- Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden
- Nachvollziehbarkeit beim Loben und Anerkennen von Leistungen
- respektvolles und faires Verhalten als Grundregel der Zusammenarbeit
- Transparenz bei Beurteilung, Beförderung und (Neu-)Einstellungen
Wie Führungskräfte das Gefühl der Bedrohung dämpfen oder vermeiden
Hinter einer empfundenen Bedrohung steht oftmals keine echte Bedrohung. Trotzdem wird ein innerer Abwehrmechanismus aktiviert, der einer effizienten Zusammenarbeit im Wege steht. Die gute Nachricht: Potenzielle Störfaktoren lassen sich von Ihnen als Führungskraft vermeiden.
Um Frust und Missverständnisse im Arbeitsalltag zu vermeiden, halten Sie sich an die folgenden Empfehlungen:
- Wenn sich Mitarbeitende aus Ihrer Sicht unlogisch verhalten, treten Sie einen Schritt zurück und betrachten Sie die Situation.
- Fragen Sie: Was ist dem Verhalten vorausgegangen? Analysieren Sie das Verhalten auf Basis der Annahmen laut SCARF.
- Kommen Sie zu keinem schlüssigen Ergebnis und finden Sie den Auslöser nicht, suchen Sie das Gespräch – ohne vorwurfsvoll aufzutreten.
- Bieten Sie Mitarbeitenden Sicherheit, indem Sie Entscheidungen nachvollziehbar begründen, Pläne offenlegen und einen möglichst großen individuellen Handlungsspielraum zulassen.
- Kennen Sie häufige Auslöser für Konflikte und Missverständnisse in Ihrem Team, vermeiden Sie diese durch die Berücksichtigung der Dimensionen laut SCARF.
Kritik am SCARF-Modell
Kritisch zu betrachten sind die folgenden Punkte:
- Die Liste der Dimensionen nach SCARF ist unvollständig und bildet nicht alle möglichen Faktoren der Bedrohung und Belohnung ab.
- Das SCARF-Modell ist stark generalisierend.
- Die Kernaussaugen des SCARF-Modells sind weder völlig neu noch einzigartig. Viele Modelle und Ansätze zu modernen Führungsstilen zielen zum Beispiel darauf ab, Mitarbeitende durch mehr Mitspracherechte, empathisches Führungsverhalten und die Kommunikation auf Augenhöhe zu motivieren und zu binden.